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Thomas Huonker: Vortrag Fekkerchilbi Brienz, 1. Oktober 2010

Liebe Anwesende, der Titel meiner kleinen Rede hier lautet:

Die Jenischen

oder: Woher kommt eigentlich Gleichberechtigung?

Die Jenischen haben viele Namen, nicht immer sehr nette, und oft auch solche, die man ihnen von aussen her gegeben hat, als Fremdbezeichnungen. Viele davon haben mit einem lokalen Wohn- oder Ueberwinterungsgebiet zu tun. So heissen Jenische, die von Obervaz, aber auch von einigen anderen Bündner Gemeinden wie Morissen, Almens oder Surcuolm kommen, oft einfach Obervazer. Jenische, die im bernischen Schwarzenburgerland beheimatet sind, heissen nach einer dortigen Gemeinde einfach Rüschegger.

Weil man sie vielerorts nur als Durchreisende kannte, die bestimmte gewerbliche Arbeiten anboten, hat man sie oft auch nach diesen Berufen genannt. So hiessen sie in Graubünden Kessler oder Spengler, im Wallis Chorbeni, in Bern, Solothurn und Luzern Chacheler oder Chachelifuerme, also Fuhrleute mit Kacheln, mit Geschirr. Das ist auch in anderen Ländern und Sprachregionen so. Im französischen Sprachgebiet hiessen sie vanniers oder remouleurs, also Korber oder Schleifer. Es gibt auch Bezeichnungen, wie die als Fekker, deren Ableitung umstritten ist; ich will im Rahmen dieses kurzenVortrags nicht auf die schwierigen Finessen der Herleitung dieser Bezeichnung eingehen. Vielfach werden die Jenischen einfach danach benannt, dass sie in Wagen oder mit Zelten herumreisten. So hiessen sie im Tirol Karrner, in Holland heissen sie Woonwagenbewooners. Heute werden sie oft als Fahrende, Reisende oder gens de voyage bezeichnet.

All diese Namen sind ungenau und verwirrend.

Denn Jenische haben viele Berufe, nicht nur die sogenannt „typischen“; viele derjenigen Berufe, die für sie lange namensgebend waren, sind zudem heute nicht mehr sehr verbreitet, weil sie nur noch wenig Geld einbringen. Zudem gibt es auch andere Gruppen von Fahrenden, die nicht Jenische, sondern Roma oder Sinti sind. Nicht zuletzt gibt es auch sesshafte Jenische - das ist sogar die grosse Mehrheit. Und schliesslich lebt heute ja fast jeder Sesshafte in vieler Hinsicht auch fahrend, sei es als Pendler, als Tourist oder, ganz im Stil der Fahrenden, als Camper.

Die Bezeichnung der Jenischen als Fahrende hat also ihre Schwächen und Ungenauigkeiten.

Deshalb ist es am besten, die Jenischen so zu nennen, wie sie das auch selber tun, eben Jenische. Dieser Name hängt mit ihrer Sprache zusammen, dem Jenischen. Die jenische Sprache und ihre Nebenformen sind in verschiedenen Dialekten und Ausprägungen in weiten Teilen Europas verbreitet, und das seit vielen Jahrhunderten. In früheren Jahrhunderten wurde sie, auch das wieder ein Name, der von aussen kam, als Sprache der Vaganten bezeichnet, später als die der Gauner oder Jauner, was wieder zu den weniger netten beziehungsweise krass abwertenden Bezeichnungen dieser Gruppe und ihrer Sprache gehört. Schriftliche Quellen berichten schon aus dem 13. Jahrhundert von damaligen Formen dieser Sprache, also muss sie schon lange vorher entstanden sein. Die Jenischen sind somit älter als die Eidgenossenschaft. Sie sind eine alteingesessene oder autochthone Minderheit in Europa, kenntlich an ihrer uralten, aber in einzelnen Worten fast identisch überlieferten Sprache und auch daran, dass ein Teil der Jenischen immer nomadisch, als Fahrende, oder zumindest halbnomadisch lebte und lebt.

Auch zum Begriff Jenisch gibt es viele sprachliche Herleitungen, doch die sind auch nicht ganz einfach darzulegen, ich lasse sie hier ebenfalls aus. Und nicht zuletzt gibt es zahlreiche Theorien zur sogenannten Abstammung oder Herkunft der Jenischen.Zu diesen Theorien möchte ich mich hier kurz äussern.

Zunächst aber eine Frage: Woher stammen eigentlich die Berner? Was ist ihre Herkunft? Nun, man könnte sagen: Sie wurden von den Zähringern erfunden, als diese Bern gründeten. Aber man kann auch sagen: Es gab doch schon vorher Leute dort. Wahrscheinlich sprachen sie auch schon eine Art Berndeutsch. Noch vorher allerdings sprach man am dieser Stelle des Aareufers alemannisch, burgundisch, gallo-römisch, lateinisch und keltisch. Wie man in noch früheren Zeiten dort sprach, weiss man nicht mehr, aber man weiss, dass es auch vor den Kelten schon Menschen gab dort. Von ihnen allen stammen die Berner ab. Und noch dazu stammen die heutigen Bernerinnen und Berner von allen andern ab, die erst nach der Zähringerzeit nach Bern kamen, und das waren ja nicht wenige. Sie alle sind, sofern sie in Bern wohnen oder eingebürgert sind, Bernerinnen und Berner. Von ihrer Abstammung her aber kamen sie aus aller Welt. Bei den Berner Oberländern, den Thunern, Spiezern und Brienzern ist das alles noch ein bisschen anders, ich weiss, ich habe jetzt nur von den Stadtbernern gesprochen. Diese bunte, vielfältige, sich in der Vorzeit und in aller Welt verlierende Abstammung wird den Bernern und Bernerinnen aber nicht vorgehalten. Es heisst nicht: Ja gibt es denn überhaupt Berner? Was sind Berner? Woher kommen die Berner eigentlich? Soll man sie überhaupt Berner nennen, oder soll man diesen Namen in Anführungszeichen setzen? Wie unterscheidet sich denn die Sprache der verschiedenen Berner Untergruppen von der Sprache der Solothurner, Freiburger, Oberwalliser und Aargauer? Und schliesslich: Soll man solche Berner eigentlich dulden, hier, in Brienz, oder in Basel, oder im Jura, oder in Genf? Diese Fragen stellt man nicht, weil alle Berner seit Jahrhunderten amtlich als Berner registriert sind, weil Bern eine Stadt und ein Kanton ist, der sich selber regiert, mit Amtshäusern, Museen und Bibliotheken, mit Parlamenten und eigener Steuerverwaltung, und weil in der Schweiz die freie Niederlassung gilt.

Ja, die Bernerinnen und Berner haben es gut.

Nun aber zurück zu den Jenischen. Genau solche Fragen stellt man den Jenischen dauernd, und zwar überall, wo es sie gibt. Woher kommen die Jenischen eigentlich? Was sind die Jenischen? Und man stellt diese Fragen nicht immer aus freundlichem Interesse. Sondern man benutzt die Unklarheit, welche die Antworten auf solche Fragen ja an sich haben müssen und bei allen Menschengruppen haben, um daraus zu folgern, es sei höchst fraglich, ob es Jenische wirklich gebe, ob es sie je gegeben habe, ob sie überhaupt existieren dürfen, diese Jenischen, ob sie wirklich auch ihre Rechte haben, gleich wie andere Menschengruppen, ob sie nicht vielleicht schon bald aus der Geschichte oder aus der modernen Zeit verschwinden werden und ob sie, wie andere Menschen auch, tatsächlich irgendwo einige kleine Plätzchen für sich in Anspruch nehmen dürfen, oder ob man sie nicht doch besser sofort möglichst weit weg schicken solle.

Eigenartig ist auch, dass die Jenischen, die es doch in so vielen Ländern Europas als eigenständige Sprachgruppe mit ihren verschiedenen, aber recht ähnlichen Dialekten und meist auch mit ihren in vielen Elementen sehr ähnlichen Traditionen und Lebensformen gibt, zwar fast nirgends – ausser jetzt hier in Brienz! – so ganz richtig und vollwertig dazugehören, aber dann umgekehrt oft auch wieder gerne aus den allerlokalsten Verhältnissen abgeleitet werden, ohne Blick in andere Länder, wo es auch Jenische gibt.

Das ist eine weitere, und zwar die gegenteilige, Variante der Verunsicherung und Abwertung durch Herumreiten auf der Herkunftsfrage. Sie funktioniert genau umgekehrt. Nun wird nicht mehr gefragt: Woher kommen die eigentlich? Sondern es wird bei diesem Verfahren die Antwort geliefert: Sie kommen eigentlich von hier. Sie sind nichts Besonderes, nichts Eigenständiges, keine Grupppe mit eigener Identität. Es sind eigentlich verarmte Berner, diese Rüschegger. Es sind veramte Tiroler, diese Karrner. Es sind verarmte Bündner Kleinbauern und Tagelöhner, diese Spengler. Und dasselbe wird auch in Holland, in Italien, im Elsass und in Deutschland von den Jenischen gesagt. Sie sprechen zwar überall jenisch, sind aber eigentlich von hier. Plötzlich sind sie dann nicht mehr Fremde, sondern eigene Leute, aber eben Verarmte, Deklassierte, Davongelaufene, Davongejagte.

Der Effekt dieser beiden widersprüchlichen und gegensätzlichen, aber oft und ungeniert auch kombiniert angewendeten Verfahren ist derselbe. Die Jenischen werden nicht als alte europäische Minderheit in verschiedenen Ländern respektiert und anerkannt. Ihre Rechte werden angezweifelt. Ihre Kultur wird nicht oder viel weniger als die Kulturen anderer Volksgruppen gefördert. Sie können ihre Steuern nicht selber verwalten, sondern müssen bei den Staaten, in denen sie leben, um jede Kleinigkeit an Infrastruktur betteln gehen. Die Fahrenden unter ihnen müssen es hinnehmen, dass Bürokraten oder Gemeindeversammlungen darüber entscheiden, ob sie sich überhaupt irgendwo legal niederlassen können oder nicht.

Das sind die heutigen Folgen dieses Mangels an Respekt vor dieser Gruppe.

Als Historiker habe ich auch eingehend erforscht, was die früheren Folgen dieses mangelnden Respekts vor den Rechten der jenischen Volksgruppe in verschiedenen Ländern waren. Folgen dieses mangelnden Respekts waren widerliche, verleumderische Texte über die Jenischen von angeblichen Wissenschaftern. Es war der Ausschluss aus den Zünften, und aus der Rechtsgemeinschaft. Es waren grauenhafte Hetzjagden und Vertreibungen. Es waren systematische und gewaltsame Kindswegnahmen. Es waren Eheverbote und Zwangssterilisationen. Es waren Einweisungen in Zwangsarbeitsanstalten und Korrektionsanstalten, unter den Nazis auch in Konzentrationslager und Vernichtungslager. Es waren, kurz gesagt, verschiedene Formen der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung, die in Tatbeständen des Völkermords gipfelten.

Das dürfen wir nie vergessen. Und das darf auch nie mehr geschehen.

Was es braucht, ist vorbehaltloses, gleichwertiges, respektvolles, ohne Austricksen und Verzögerungstaktiken gelebtes Miteinander mit den jenischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Also Gleichberechtigung.

Nun komme ich zur nächsten schwierigen Frage: Woher kommt eigentlich die Gleichberechtigung? Gleichberechtigung kommt aus der Haltung heraus, dass alle Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben. Die Schweiz hat zu dieser schönen Idee der Gleichberechtigung einige gute Beiträge geleistet, ich nenne zum Beispiel die Ideen von Jean-Jacques Rousseau oder die Errichtung eines frühen demokratischen Rechtsstaats im euopäischen Revolutionsjahr 1848. Die Gleichberechtigung kann aber auch rasch wieder verschwinden, oder sie wird seltsam exklusiv interpretiert. Davon können die Schweizer Frauen ein Lied singen, mit teilweise bitteren Strophen. Gleichberechtigung muss stets aktualisiert, gelebt, gehegt und gepflegt werden. So auch die Gleichberechtigung der Jenischen, die noch länger vergessen ging als die der Frauen. Die Schweiz hat dazu in den letzten Jahren einige wichtige erste Schritte gemacht. Solche Schritte stehen in anderen Ländern noch aus. Aber auch in der Schweiz ist es noch nicht überall so wie heute in Brienz, wo klar gesagt und dementsprechend gehandelt wird: Die Jenischen gehören zur Schweiz, zu Bern, zu Brienz, zu uns. Sie leben in einiger Hinsicht anders als wir Sesshaften, und das ist gut so. Wir alle haben die gleichen Rechte, und wo das noch nicht so ist, da ist es auch noch nicht gut. Solche Treffen wie hier an der zweiten jenischen Chilbi in Brienz sind wichtige Schritte des Entgegenkommens, des Verständnisses, des Kennenlernens. Viele solcher Schritte braucht es noch, damit die Jenischen im Europa, in der Schweiz, im Bern im 21. Jahrhunderts endlich als Menschen gleichen Rechts gewürdigt und respektiert werden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.