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Dokument Nr. 21:

Rede des Bundesratspräsidenten Ole von Beust, Erster Bürgermeister der Freien Hansestadt Hamburg zum Gedenken zu Ehren der Opfer der Sinti und Roma

am Donnerstag, 20. Dezember 2007, in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor zehn Jahren wurde das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eingeweiht.

Bundespräsident Herzog eröffnete damals die ständige Ausstellung zum Schicksal der Sinti und Roma zur Zeit des Nationalsozialismus. In seiner Rede sagte der Bundespräsident:

Versöhnung und Friedensstiftung beginnen immer mit einem Wandel falscher Einstellungen. Mit Aufklärung über die Dummheit und Borniertheit von Feindbildern, Aufklärung über Klischees. Versöhnung und Frieden gehen deshalb immer von Menschen aus, die im anderen zunächst den Mitmenschen sehen.

Am 16. Dezember 1942 unterzeichnete Heinrich Himmler den so genannten "Auschwitz-Erlass".

Auf Befehl des Reichsführers SS, so der Erlass, sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft (?) in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen.

Die Menschenverachtung, die Kälte, die aus dieser Formulierung dringt, ist auch heute noch kaum zu ertragen.

Zwischen 1933 und 1945 wurden 500.000 Sinti, Roma, Jenische und Angehörige verwandter Völker aus ganz Europa, über 20.000 aus Deutschland, erfasst, gedemütigt, gequält, deportiert und ermordet.

65 Jahre nach dem Auschwitz-Erlass, 65 Jahre nach dem 16. Dezember 1942, hat der Wandel falscher Einstellungen - wie es Roman Herzog in seiner Heidelberger Rede nannte - noch längst nicht in allen Köpfen statt gefunden.

In den Jahren nach dem Krieg wurde der Völkermord an den Sinti und Roma geleugnet, die Überlebenden erneut entrechtet, wurde ihnen staatliche Anerkennung für die gegen sie verübten Verbrechen verwehrt. Oftmals waren die Sinti und Roma der Willkür und den Vorurteilen von Behörden und Gerichten ausgesetzt.

Und noch heute ist das Bild der Sinti und Roma in der deutschen Mehrheitsbevölkerung nicht frei von Klischees; Klischees zwischen Rassismus und Romantisierung.

Richtig ist: Mit rund zwölf Millionen Menschen sind Roma, Sinti und die, die sich selber als "Zigeuner" bezeichnen, die mit Abstand größte Minderheit der Europäischen Union.

Sie haben eine eigene Kultur, Sprache und Tradition. Über Jahrhunderte wurden sie verfolgt und durch die Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt. Und wer nicht dazugehören darf, der muss seine Einzigartigkeiten pflegen, um nicht jeder Identität beraubt zu werden; der wird ganz besonders an Kultur, Tradition, Sprache und Wertvorstellungen festhalten.

Doch das ethnische Selbstverständnis der Sinti und Roma taugt nicht als Gegenbild zur bürgerlichen Gesellschaft.

Wer von der Nicht-Integrierbarkeit der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma in das moderne Europa spricht, führt die Etikettierung des "Andersseins" mit kulturellen Argumenten fort; der macht sich erneut der Diskriminierung schuldig.

Ein langsamer Prozess des Umdenkens ist seit Ende der 70er Jahre in Gang gekommen; nicht weil sich die Mehrheitsgesellschaft öffnete, sondern weil die Sinti und Roma begannen, sich zu organisieren, sich mutig Gehör zu verschaffen, um endlich in der Mitte unserer Gesellschaft anzukommen.

Und immer da, wo dies gelingt, werden die Sinti und Roma nicht mehr als Angehörige einer ethnischen Minderheit gesehen, sondern einfach als "Mitmenschen", ganz wie es Roman Herzog in seiner Heidelberger Rede vor zehn Jahren forderte.

Doch das ist noch längst nicht selbstverständlich. Noch heute gibt es Sinti und Roma, die sich benachteiligt und an den sozialen Rand gedrängt fühlen. Viele haben schlechtere Chancen in Bildung und Beruf, ihnen wird die Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verwehrt.

Wann immer dies geschieht, müssen wir gemeinsam handeln - ein Hamburger Beispiel:

In der Hansestadt leben derzeit ungefähr 9.500 Roma- und Sinti-Familien, im Durchschnitt mit je drei Kindern. Im Frühjahr 1993 wurde daher in Hamburg der erste Roma-Lehrer eingestellt. Heute sind es insgesamt sieben Roma und ein Sinto, die den Schulbesuch der Roma- und Sinti-Kinder erfolgreich unterstützen und fördern.

Die Roma- und Sinti-Lehrer und -Schulsozialarbeiter arbeiten im Unterricht mit, erteilen herkunftssprachlichen Unterricht, beraten und unterstützen Kollegen, Schüler und Eltern.

Schule wird so zum Ort, der nicht nur von "Nicht-Roma und -Sinti" geprägt ist, der fremd, ja bedrohlich scheint. Sondern Schule wird zur Chance.

Gewiss, dies ist nur ein Beispiel; aber nur mit solch konkreten Projekten kommen wir an gegen die Dummheit und Borniertheit von Feindbildern; nur so gelingt uns die Aufklärung über Klischees - um ein letztes Mal Bundespräsident Herzog zu zitieren - und zwar auf beiden Seiten!

Meine Damen und Herren,

heute ist nicht nur ein Tag des Erinnerns, des Gedenkens und der Trauer - sondern auch ein Tag, der uns zum Miteinander aufruft.

Wir dürfen dem lange fehlenden Unrechtsbewusstsein über den Völkermord an den Sinti und Roma, dem Vergessen und Verdrängen des Zivilisationsbruchs Auschwitz, nicht noch eine weitere Verfehlung hinzufügen: die Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber der heutigen Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma.

Ich begrüße es sehr, dass nun ein Kompromiss gefunden zu sein scheint für die Errichtung des Denkmals für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma, an den Menschen, die sich selbst als "Zigeuner" bezeichnen.

Ich denke, die Länder werden sich mit breitester Zustimmung zu diesem Kompromiss und zu der jetzt vorgelegten Entschließung bekennen.

Überlebende und Hinterbliebene, die Mitglieder der Vertreterorganisationen, möchte ich ganz herzlich zum heutigen Gedenken im Bundesrat willkommen heißen. Ich danke für Ihr Kommen und bitte Sie um Ihre Unterstützung, damit wir den Gedenkbrunnen recht bald in der unmittelbaren Nachbarschaft des Reichstagsgebäudes, am Simsonweg, werden einweihen können.

Auf dem Rand des Brunnens soll das Gedicht des italienischen Rom Santino Spinelli stehen; es trägt den Titel "Auschwitz":

Eingefallenes Gesicht

erloschene Augen

kalte Lippen

Stille

ein zerrissenes Herz

ohne Atem

ohne Worte

keine Tränen.


Meine Damen und Herren,

ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der eigenständigen Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.



Kommentar:
Die eindrückliche Rede des Präsidenten des deutschen Bundesrats Ole von Beust (CDU), Bürgermeister von Hamburg, zum Gedenken an die Verfolgung der Roma, Sinti und Jenischen, die er am 20. Dezember 2007 in Berlin hielt, zeugt vom Stellenwert, den diese Thematik, 10 Jahre nach Eröffnung des Dokumentationszentrums in Heidelberg, in Deutschland hat. Er weist auch auf das Mahnmal von Dani Karavan in Berlin zum Gedenken an diese Opfergruppen und auf dessen Inschrift hin. Nicht selbstverständlich, aber korrekt und angemessen ist es, dass auch die Opfergruppe der Jenischen ausdrücklich erwähnt wird, und dass zur Gedenkfeier auch Vertreter der Jenischen eingeladen wurde. Dies war bei solchen Reden und Gedenkfeiern allzu lange nicht der Fall, und die Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der Jenischen unter dem Nationalsozialismus, ebenso wie der Geschichte ihrer vorherigen und seitherigen Ausgrenzung, steht erst in relativ bescheidenen Anfängen. Auch die Anerkennung der Jenischen als gleichberechtigte Volksgruppe mit eigener Sprache und Tradition steht in Deutschland noch aus, entgegen den entsprechenden Empfehlungen internationaler Übereinkommen des Minderheitenschutzes, doch ist dieser Schritt zur korrekten und vollständigen Umsetzung dieser Übereinkommen von grosser Bedeutung.