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zu den Themen Minderheiten, Roma, Sinti, Jenische, Indigene, Menschenrechte, Menschenrechtsverletzungen, Kindswegnahmen, Anstalten, Geschichte, Pro Juventute, "Eugenik", "Rassenhygiene", Zwangssterilisation, Kastration, Psychiatrie, Rassismus, Flüchtlingspolitik, Völkermord, Holocaust


Dokument Nr. 20:
Rede, gehalten von Nationalrätin Vreni Müller-Hemmi (SP) an der Eröffnungsfeier des Dokumentations- und Begegnungszentrums der Radgenossenschaft der Landstrasse in Zürich am 7. November 2003

Es ist die Mehrheit, die minderheitsfähig werden muss
Die Jenischen sind eine schweizerische Minderheit, deren Geschichte ebenso weit zurückreicht wie die der anderen Gruppen, aus denen sich die schweizerische Vielfalt zusammensetzt. Schon im berühmten Buch „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant, das 1494 in Basel gedruckt wurde, finden sich jenische Worte.
Wie andere Minderheiten und wie die deutschschweizerische Mehrheitsgruppe der Schweiz haben auch die Jenischen ihre Bezüge zu ihren Mitmenschen gleicher Sprache und Zugehörigkeit in anderen Ländern. Zahlreiche Jenische gibt es auch in Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Italien und Oesterreich, viele jenische Familien leben über die ganze Welt verstreut.
Ähnlich wie einige wenige andere Minderheiten, vor allem die Juden, sind die Jenischen in der Schweiz, aber auch anderswo, während Jahrhunderten unterdrückt und diskriminiert worden. All die Mechanismen der Ausgrenzung, Verächtlichmachung, Vertreibung und oft auch physischer Vernichtung von Minderheiten, die wir aus der Weltgeschichte kennen, ziehen ihre düstere Spur auch durch die Geschichte der Jenischen in der Schweiz.
Ihre Sprache, das Jenische, wurde als rotwelsche Gaunersprache schlechtgemacht. Es sei gar keine richtige Sprache, heisst es in vielen vorurteilsbeladenen Publikationen, sondern nur ein Code von Kriminellen, arbeitsscheuen Bettlern und Scheininvaliden.

Seit Jahrhunderten diskriminiert
Die Jenischen, auch die Sesshaften unter ihnen, wurden im 18. und 19. Jahrhundert generell als Gauner bezeichnet. Auch der Ausdruck „Vaganten“, mit dem sie vom 14. bis ins 17. Jahrhundert und dann wieder im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet wurden, ist stigmatisierend. „Vagantität“, das heisst die fahrende Lebensweise, galt in diesen Zeiten als Straftatbestand.
Bis Ende des 18. Jahrhunderts wurden viele Fahrende, darunter neben den Roma gerade auch die Jenischen, in spektakulären Schauprozessen gefoltert, zu Geständnissen gezwungen und hingerichtet. Und im 19. Jahrhundert, genauer gesagt 1825 in Luzern, begann auch in der Schweiz, was in anderen Ländern schon vorher praktiziert wurde: Die zwangsweisen Wegnahmen von Kindern aus den fahrenden Familien, die Trennung der Geschwister, ihre Platzierung in Anstalten und bei Pflegefamilien, oft unter geändertem Namen.
In der liberalen Gründungszeit unseres Bundestaates jedoch kam es zu einem Umschwung. Die damaligen sans-papiers in der Schweiz, die Heimatlosen, bekamen das Schweizer Bürgerrecht, sofern sie nicht als Ausländer definiert und ausgeschafft wurden. Es war allerdings allzu oft ein Bürgerrecht zweiter Klasse, in kleinen, abgelegenen Berggemeinden - wie Obervaz oder Morissen in meinem Heimatkanton Graubünden - ohne Anteil an der kollektiven Nutzung der Alpen und der Wälder. Und den Neubürgern wurde gleichzeitig ihre bevorzugte Lebensweise, das Fahren in Wohnwagen und als ambulante Kleingewerbler, durch schikanöse Patentvorschriften und das Verbot des Umherziehens mit schulpflichtigen Kindern verunmöglicht.
Doch im Vergleich zu all den Jahrhunderten vorher, wo die Fahrenden, die Spielleute, das sogenannte „herrenlose Gesindel“, als rechtlose Aussenseiter behandelt worden waren, war es eine echte Neuerung, die Jenischen als Staatsbürger anzuerkennen. In den ersten Jahren des Bundesstaats war die Schweiz auch ein liberaler Hort des Asyls für Flüchtlinge aus undemokratischen Staaten, und für einige wenige Jahrzehnte, zwischen 1848 und 1888, durften auch ausländische Roma und Sinti frei in die Schweiz einreisen.
Leider blieb dieses freiheitliche Klima nur eine kurze Phase, an die wir heute allerdings gut anknüpfen können. Im 20. Jahrhundert wurden die Fahrenden ein Opfer von Betrachtungsweisen, die im Massenmord an Roma, Sinti und Jenischen unter Hitler ihren grauenvollen Vollzug fanden.

Kindswegnahmen durch Pro Juventute
Zur Schande der Schweiz muss gesagt sein, dass viele Elemente dieser Theorien, so etwa die „Eugenik“ oder die „Rassenhygiene“, in der Schweiz viele Vordenker fanden. Diese Theorien unterteilten die Menschen mit biologisch oder medizinisch verbrämten Etikettierungen, die nach heutiger Betrachtung klar rassistisch sind, in „Höherwertige“ und „Minderwertige“. Sie forderten praktische Massnahmen, um die „Höherwertigen“ zu fördern und die „Minderwertigen“ auszurotten, sei es durch Familienauflösung, Zwangssterilisation, Einsperrung oder gar, wie dann bei den Nazis, durch Massenmord. Der Schweizer Psychiater Josef Jörger hat als erster solche Denkmuster auf die Jenischen angewandt, und er empfahl 1924 genau jene Massnahmen, welche dann das „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ der Pro Juventute von 1926 bis 1973 bedenkenlos praktizierte.
So kam es zur zweiten grossen Welle der Kindswegnahmen an den Schweizer Jenischen. Diese Aktion war vom Bund subventioniert, wurde von den Kantonen unterstützt und galt als Werk des Fortschritts und der sozialen Sanierung. Bundesrat Heinrich Häberlin, der gleichzeitig Pro-Juventute-Präsident war, definierte die Jenischen, die ja unterdessen Schweizer Bürger waren, im Jahr 1927 als „dunklen Fleck in dem auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerland“.
Nun folgten wieder Jahrzehnte der Rechtlosigkeit für die Jenischen, und zwar sowohl für fahrende wie für sesshafte Familien unter ihnen. Nur wenigen Familien gelang es, durch ein verstecktes Leben in Wäldern, Kiesgruben und so weiter, als Flüchtlinge im eigenen Land, ihre Kinder vor dem Zugriff des sogenannten „Hilfswerks“ zu schützen. Die „eingefangenen Korberkinder“, so die Legende zu einem Bild in einem Pro-Juventute-Heftchen, erlitten an ihren Pflegeplätzen, in Anstalten und durch leitende Angestellte des Hilfswerks vielfache Zurücksetzung und Ausgrenzung bis hin zu Missbrauch, Inhaftierung ohne Gerichtsurteil, Zwangssterilisation.
Mutigen Publizisten wie Sergius Golowin und Hans Caprez gelang es zusammen mit Fahrenden, die sich wehrten, erst nach dem gesellschaftlichen Umschwung ab Ende der 1960er Jahre, diese Verfolgung der Schweizer Jenischen anzuprangern. Vorher stiessen ihre Klagen auf kein Gehör und wurden von den Instanzen abgeschmettert.
Die Pro Juventute konnte sich erst 1973 dazu durchringen, ihr sogenanntes „Hilfswerk“ aufzulösen. Erst jetzt war es den Jenischen möglich, ihre Interessen legal wahrzunehmen, sich zu organisieren, sich zu ihrer Kultur, Familie, Sprache und Herkunft zu bekennen, ohne sofortige Verfolgung gewärtigen zu müssen. Jetzt entstanden erste jenische Organisationen, so 1975 die Radgenossenschaft der Landstrasse, die von Anbeginn an auch ihre Zeitschrift „Scharotl“ herausgibt – die nach wie vor einzige Zeitung von Jenischen weltweit.

Radgenossenschaft kämpft für Anerkennung und Rechte
Die Forderungen der Radgenosssenschaft sind seit 1975 bis heute die gleichen geblieben: Stand- und Durchgangsplätze für die Fahrenden, Abbau der diskriminierenden Patentvorschriften, Toleranz und Anerkennung für die Kultur und die Sprache der Jenischen und deren Förderung im gleichen Mass wie die anderen Sprachen und Kulturen der Schweiz, wissenschaftliche und rechtliche Aufarbeitung des geschehenen Unrechts.
In zäher Kleinarbeit, mit einem Minimalbudget, aber mit viel Unterstützung durch Medien und Freiwilligenarbeit, vor allem aber durch den flexiblen und unbeugsamen Einsatz der organisierten Jenischen selber, hat die Radgenossenschaft, teilweise zusammen mit später entstandenen Organisationen, viele dieser Forderungen viele Schritte weitergebracht. In vielen Behörden finden die Repräsentanten der Fahrenden heute offene Türen und die Bereitschaft zu vorurteilsloser Zusammenarbeit.
Ein Schritt in diese Richtung ist die heutige Eröffnung dieses Dokumentations- und Begegnungszentrums. Es ist, wie schon die Zeitung Scharotl, das erste jenische Dokumentationszentrum weltweit. Das ist eine Pioniertat, die zu feiern ist.

Verpflichtung der Politik
Über den heutigen Feiertag hinaus ist es an uns von der Politik, zusammen mit der Radgenossenschaft weiter zu arbeiten, dass diese langsamen Schritte hin zur vollen Akzeptanz der jenischen Kultur und Sprache als gleichberechtigtes Element der Schweizer Vielfalt, der Schweizer Gesellschaft, Ökonomie und Politik führen. Dass sie nicht prekäre kleine Errungenschaften bleiben, die ein bürokratischer Federstrich oder ein personeller Wechsel an der Spitze eines Amtes wieder rückgängig machen können.
Wie alle anderen Minderheiten der Schweiz auch sollen auch die Jenischen ihre Tradition, ihr Brauchtum, ihre Kultur und ihre Sprache stolz, selbstbewusst zeigen, präsentieren und dokumentieren können. Ohne Bevormundung, die sie nur allzu gut kennen, und mit den ihnen zustehenden Mitteln, nicht als Bittsteller.
Das ist eine Lackmusprobe für die schweizerische Vielfalt, für die schweizerische Menschenrechtspolitik und für die Tragfähigkeit des Umdenkens der Mehrheit gegenüber ihren einst ausgegrenzten und verfolgten Minderheiten.
Es sind nicht die Minderheiten, die mehrheitsfähig werden müssen. Es ist die Mehrheit, die minderheitsfähig werden muss.
In diesem Sinn hoffe und erwarte ich, dass viele von dieser Mehrheit den Weg hierher an die Hermetschloostrasse finden.

Kommentar:
Diese Rede ist auch dokumentiert auf
http://www.mueller-hemmi.ch/politisch/detail.php?id=113&gid=6 (Stand 29. Oktober 2007)
Vreni Müller-Hemmi war von 1995 bis 2007 sozialdemokratische Nationalrätin im schweizerischen Parlament als eine der Repräsentantinnen des Kantons Zürich. Sie engagiert sich für soziale Anliegen, Frauenförderung und Minderheitsrechte. Geboren 1951 in Chur (Graubünden), verbrachte sie dort ihre Jugendzeit.