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Dokument Nr. 13:
Paul Wulf. Würdigung des Lebens eines zwangssterilisierten Antifaschisten


Artikel aus der Neuen Rheinischen Zeitung vom 13. Juni 2006

© 2007 - NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung bzw. gekennzeichnete AutorInnen / Institutionen Beitrag des Online-Flyers Nr. 99 vom 13.06.2007.

Lebensgeschichte eines libertären Antifaschisten aus Münster

Paul Wulf

Von Bernd Drücke
"Eine Stimme für viele Opfer - Freundeskreis Paul Wulf fordert Umbenennung des Jöttenwegs" meldete die Münstersche Zeitung vor zwei Wochen. Zum Freundeskreis gehört Bernd Drücke, der in der jüngsten Ausgabe der "Graswurzelrevolution" (www.graswurzel.net) begründet, warum auch er der Auffassung ist, dass der 1999 gestorbene und von den Nazis als Kind zwangssterilisierte Antifaschist und Bundesverdienstkreuzträger endlich von seiner Heimatstadt öffentlich geehrt werden sollte. - Die Redaktion.

Öffentliche Plätze und Straßen werden oft nach historischen Persönlichkeiten benannt. Durch die Auswahl der so geehrten Personen demonstriert eine Stadt, wen und was sie als ehrwürdig ansieht. Im westfälischen Münster ist der größte Platz nach Paul von Hindenburg benannt, einem Revanchisten, der den Ersten Weltkrieg einmal wie folgt kommentierte: "Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur." Die Universität dieser Stadt trägt den Namen eines Judenhassers und Imperialisten, der den Ersten Weltkrieg mitverschuldete: Kaiser Wilhelm II. Viele Straßen in der katholischen Provinzmetropole sind Militaristen und "Kriegshelden" wie Manfred von Richthofen, Maximilian Graf von Spee und Otto Weddingen gewidmet. Eine Straße, die an den Antimilitaristen Paul Wulf erinnert, sucht man dagegen vergebens. Dabei war Paul Wulf eine herausragende Persönlichkeit des Antifaschismus in Münster.

Paul Wulf - ein Kämpfer für soziale Gerechtigkeit

Der am 2. Mai 1921 geborene Paul Wulf verstand sich als Anarchist und Kommunist. Er war ein extrem humorvoller Mensch und leidenschaftlicher Blasphemiker, er liebte das revolutionäre Pathos und konnte sich über herrschaftskritische und antiklerikale Späße wie ein Kind freuen. Seine Waffe war das kritische und entlarvende Wort. Sein Ziel war ein libertärer Sozialismus, eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Paul Wulf verstarb am 3. Juli 1999 im Alter von 78 Jahren.

Paul Wulf - das Arbeiterkind

Paul Wulf wuchs mit seinen drei Geschwistern in proletarischen Verhältnissen auf. Sein Vater war in den Jahren 1921 bis 1928 im Ruhrbergbau in der Zeche Ernestine in der Kokerei beschäftigt, wo seine Gesundheit angegriffen wurde. Es war die Zeit zwischen der Inflation und der Weltwirtschaftskrise (1923-1930), die Zeit der Weimarer Republik. So formulierte Paul Wulf: "Die Regierung Severing (SPD) tat [so], als ob sie die Interessen der Arbeiter vertreten würde, [sie] war schon damals - so möchte ich sagen - der Folterknecht der arbeitenden Bevölkerung."

Zwangssterilisation

Angesichts ihrer materiellen Not gaben seine Eltern ihn 1928 schweren Herzens in die Obhut des katholischen St. Vincent-Heims in Cloppenburg. 1932 wurde er in die jugendpsychiatrische "Idiotenanstalt" nach Marsberg verlegt. Hier lebten aufgrund fehlender Heimplätze gesunde und "kranke" Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammen. Sie waren den Anstalts-"Ärzten" und ihren "rassen-hygienischen Maßnahmen" ausgesetzt. 1937 stellten Paul Wulfs Eltern einen Entlassungsantrag. Der Anstaltsleiter teilte ihnen mit, dass dem Antrag aufgrund von Pauls "angeborenen Schwachsinn ersten Grades" nur in Verbindung mit der Sterilisation zugestimmt werden könne. Um ihr Kind vor der Vergasung zu retten, stimmten die Eltern der Zwangssterilisation zu.

Paul Wulf und Bernd Drücke 1982. Foto: Sabine Hocke

Der 12. März 1938, der Tag, an dem Österreich dem Deutschen Reich "angeschlossen" wurde, war der traumatischste Tag seines Lebens. An diesem Tag wurde Paul Wulf im Paderborner Landeskrankenhaus zwangssterilisiert. Noch keine 17 Jahre alt, wurde er Opfer des von den Nazis am 14. Juli 1933 verabschiedeten "Erbgesundheitsgesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Dieser brutale Eingriff veränderte sein Leben und machte ihn zu einem unermüdlichen Antifaschisten.

Antifaschistischer Widerstand und Aufklärungsarbeit

Nach seiner Entlassung aus der Anstalt in Niedermarsberg arbeitete Paul Wulf während des Zweiten Weltkrieges gegen das Nazi-Regime. Er konspirierte mit Kriegsgefangenen, gab Informationen an sie weiter und verübte kleinere Sabotageaktionen. Den Einmarsch der Alliierten erlebte er als Befreiung. Doch er musste schon bald sehen, dass viele der alten NS-Schreibtischtäter auch im "neuen Deutschland" Schlüsselpositionen besetzten und gesellschaftliches Ansehen genossen, während er aufgrund seiner offen ausgesprochenen sozialrevolutionären Gedanken selbst in Zeiten der Vollbeschäftigung arbeitslos und arm war.
Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" kämpfte Paul Wulf beharrlich für politische Aufklärung und für eine Entschädigung.
1950 verkündete das Amtsgericht Hagen: "Der Antragsteller hat sich offenbar spät entwickelt und die Entwicklung ist für ihn günstig verlaufen, so daß die Diagnose ‚angeborener Schwachsinn` nicht mehr aufrecht erhalten werden kann." Das gleiche Gericht lehnte Paul Wulfs Schadensersatzanspruch zynisch ab: "Erfahrungsgemäß behaupten die Betroffenen, durch die Unfruchtbarmachung körperliche Schäden, die zur Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsbehinderung geführt haben sollen, erlitten zu haben. Die Erfahrung des Wiederaufnahmegerichts lehrt, daß diese körperlichen Schäden durchweg simuliert werden."
Erst 1979 gab ihm das Sozialgericht Münster Recht und verurteilte die Landesversicherungsanstalt zur Zahlung einer bescheidenen Erwerbsunfähigkeitsrente. Durch seine juristische und politische Hartnäckigkeit wurde Paul Wulf zur Stimme der ca. 400.000 im nationalsozialistischen Deutschland zwangssterilisierten Menschen. Ohne sein öffentliches Engagement wäre wohl auch die 1981 vom Bund bewilligte einmalige Entschädigungszahlung in Höhe von 5.000 DM an die noch lebenden Zwangssterilisierten nicht zustande gekommen. Wie kein anderer in Münster hat Paul Wulf faschistische Strukturen aufgedeckt und die Biografien von Menschen verfolgt, die im "Dritten Reich" als NSDAP-Schreibtischtäter aktiv waren und dann nach dem Krieg eine reibungslose Karriere gemacht haben. So machte er sich viele Feinde, weil er als Ergebnis seiner Recherchen zum Beispiel die Nazivergangenheit des Münsteraner Professors Dr. Otmar Freiherr von Verschuer dokumentierte und dessen NS-Schriften zugänglich machte. Verschuer war Leiter der "Zwillingsforschung". Sein bekanntester Schüler war der KZ-Arzt Josef Mengele, der im KZ Auschwitz-Birkenau für Verschuers Forschung Menschen mit Krankheitserregern infizierte und die Proben an ihn sandte. Ab 1951 war Verschuer Professor für Humangenetik und erster Lehrstuhlinhaber des neu gegründeten Instituts für Humangenetik an der Westfälischen Wilhelms Universität (WWU) Münster, zeitweise auch Dekan der Medizinischen Fakultät. Bis zu seinem Tod am 8. August 1969 blieb er ein hoch angesehener Bürger seiner Stadt.
Paul Wulf recherchierte täglich in Staatsbibliotheken und diversen Archiven. Immer auf der Suche nach Material, das er für seine zahlreichen antifaschistischen Ausstellungen nutzen konnte. Die Themen seiner heute teilweise in der Bildungsstätte Villa ten Hompel zugänglich gemachten Schautafeln sind, neben Euthanasie, auch die Situation der Frauen, der Jugendlichen und der Sinti und Roma im NS-Staat. Bei der Zusammenstellung seiner Ausstellungen verstand er es - inspiriert durch die Arbeiten des Dadaisten John Heartfield und des libertären Antimilitaristen Ernst Friedrich -, in Collagenform Zusammenhänge zu verdeutlichen. Nicht viele Menschen haben sich so intensiv mit den Themen Euthanasie und Zwangssterilisation beschäftigt wie Paul Wulf. Er war Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und engagierte sich zeitweise in der ab 1956 verbotenen KPD. Doch die Kaderkommunisten waren ihm, dem lebensfrohen Freidenker und Anarchisten, bald zu hierarchisch, zu "revisionistisch", zu autoritär, zu stalinistisch. Er blieb ein undogmatischer, linker Einzelkämpfer. Kaum eine Hausbesetzung, kaum ein alternatives Straßenfest, kaum eine Anti-Atom-, Anti-Kriegs- oder Antifa-Demonstration, an der er nicht teilnahm. Noch kurz vor seinem Tod engagierte er sich gegen den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Regelmäßig besuchte er das Umweltzentrum in der Scharnhorststraße, um zu diskutieren, im Umweltzentrum-Archiv zu stöbern und alternative Zeitungen zu lesen. Egal wo man ihn gerade traf, aus seiner legendären Aktentasche zauberte er immer wieder seine neuesten Funde, spannende Bücher oder Kopien, die er bei seinen Touren durch die Archive und Buchläden entdeckt hatte.

Das Bundesverdienstkreuz für einen Anarchisten

Anfang der 1990er Jahre setzten sich der damalige ESG-Pfarrer Werner Lindemann und andere Demokratinnen und Demokraten, die Paul Wulf nahe standen, dafür ein, dass er das Bundesverdienstkreuz bekommen solle. 1991 war es soweit: Der Sozialrevolutionär und Staatskritiker Paul Wulf erhielt für seine antifaschistische Bildungsarbeit das Bundesverdienstkreuz. Die Verleihung war für ihn eine zwiespältige Sache. Er hatte überlegt, den Orden abzulehnen, weil er meinte, dass "so viele schlechte Menschen, so viele Nazis diese Auszeichnung gekriegt" haben. Paul Wulf hat seine Ideale nie verraten. Er war ein Menschenfreund, ein liebenswerter Hand- und Kopfarbeiter mit Herz, ein schwieriger, bisweilen chaotischer, aber wunderbarer Mensch. Wenn er mit Menschen geredet hat, nahm er oft ihre Hände und schaute ihnen tief in die Augen. Und seine Augen waren auch im Alter die eines Siebzehnjährigen. Seine Seele war jung geblieben, bis zu seinem Tod war er ungebrochen, sehr lebendig und kämpferisch.

Der Freundeskreis Paul Wulf

Seitdem trifft sich der Freundeskreis Paul Wulf, führt Gedächtnisveranstaltungen durch und produziert Publikationen. Intention der Gruppe ist es, Paul Wulfs Nachlass aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im April 2007 hat der Freundeskreis das Buch "Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand" im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben. Nun engagiert er sich für eine Umbenennung des Münsteraner "Jöttenwegs" in "Paul Wulf Weg".
Der Jöttenweg ist benannt nach einem NS-Rasseforscher, der nach 1945 unbehelligt an der Uni Münster weiterarbeiten konnte. Karl Wilhelm Jötten war von 1924 bis zu seinem Tod 1958 Direktor des Münsteraner Instituts für Hygiene. Seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Gewerbehygiene haben ihm hohe Ehrungen eingebracht. Er bekam das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Deutsche Akademie der Naturforscher zeichnete ihn mit der Cothenius-Medaille aus. Bis vor kurzem genoss Karl Wilhelm Jötten in Münster einen guten Ruf. "Dass er der eugenischen und rassenhygienischen Forschung an der Universität Münster bis 1945 wie kaum ein anderer Vorschub leistete, wird mithin gerne übersehen", schreibt Jan Nikolas Dicke in seiner Examensarbeit (Weißensee-Verlag 2004). Dickes Dissertation belegt, dass Jötten menschenunwürdige Praktiken mit seiner akademischen Autorität legitimierte.
Die Chancen für eine Umbenennung des "Jötten-Wegs" in "Paul Wulf Weg" stehen gut, auch weil im Mai 2007 u.a. die Frankfurter Rundschau über den Fall Jötten, und am 6. Juni die Münsteraner Presse über die Umbenennungsinitiative des Paul Wulf-Freundeskreises berichtet haben. Ein Denkmal für einen Anarchisten Vom 16. Juni bis zum 30. September ist in Münster die Skulpturenausstellung zu sehen. Sie gilt als "die wichtigste Freiluftschau der Gegenwartsplastik" (DER SPIEGEL 21/07). Das von der Frankfurter Künstlerin Silke Wagner in Zusammenarbeit mit dem Münsteraner Umweltzentrum-Archiv-Verein konzipierte Paul Wulf-Denkmal, das während dieser "skulptur projekte 07" zu sehen sein wird, könnte die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Leben des Zwangssterilisierten lenken.
Die Paul Wulf-Skulptur aus Epoxid-Zement steht vor dem Stadthaus 1 in der Münsteraner City. Sie ist 3,40 Meter hoch und trägt einen Mantel, der als Litfasssäule dient. Auf den Plakaten ist die Lebensgeschichte des Anarchisten mit Dokumenten und Texten skizziert. Alle vier Wochen soll der Mantel neu plakatiert werden. Dann werden zudem die Geschichten der Münsteraner HausbesetzerInnenbewegung, der Anti-Atom-Bewegung, des Umweltzentrum-Archivs und der Kriminalisierung alternativer Medien dokumentiert. Ausführlichere Beiträge, Dokumente und Fotos zu diesen Themen sind außerdem zu finden auf der Internetseite http://www.uwz-archiv.de Ein Ziel dieses Projektes ist es, Kunst und Politik zusammenzuführen und für die plakatierten Inhalte eine Öffentlichkeit zu schaffen. Vielleicht kann es auch dazu beitragen, Druck auf die Verantwortlichen zu machen? Damit die nach dem NS-Verbrecher Jötten benannte Straße verschwindet und stattdessen Paul Wulfs widerständiges Lebenswerk auch in Form eines Straßennamens gewürdigt wird.

Weitere Informationen zu Paul Wulf:

Buch: Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2007, 208 Seiten, Freundeskreis Paul Wulf (Hg.), ISBN 978-3-939045-05-2, 15 Euro
Film: Robert Krieg, Dagmar Wünneberg, Paul Wulf: Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W. Ein Film über die Folgen von Rassegesetzen und Zwangssterilisierungen im 3. Reich, BRD 1979, Videofilm halbzoll s/w, Länge ca. 45 Min.
Dauerausstellung: Im Rahmen einer Dauerausstellung zur Rolle der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus ist Paul Wulf ein Ausstellungsraum gewidmet. Ort: Villa ten Hompel, Kaiser-Wilhelm-Ring 28, 48127 Münster. Öffnungszeiten: Di. - Fr. 10-16 Uhr, So. 14-18 Uhr. Infos: 0251/4927048
Internetseiten zu Paul Wulf (und Münsters Geschichte von unten):http://www.paul-wulf.net http://www.uwz-archiv.de

Kommentar:
Das exemplarische Schicksal von Paul Wulf verdient weite Kenntnisnahme. Ihm und allen, die ihn in seinem Engagement unterstützten, sei gedankt.
Zwangssterilisationen fanden auch in zahlreichen anderen Ländern statt, und vielfach schon vor und auch noch nach der Schreckensherrschaft des Nazi-Reichs. Die angebliche "erbliche Minderwertigkeit" der ärztlich unfruchtbar Gemachten wurde mit ideologisierten wissenschaftlichen Lehren begründet, oft von Professoren verkündet, die unter dem Titel "Eugenik" oder "Rassenhygiene" in die Wissenschaftsgeschichte eingingen. Die ersten Zwangssterilisationen dieser Art wurden in verschiedenen Staaten der USA seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgeführt. In Europa war die Schweiz das erste Land, in welchem Mediziner Zwangssterlilisationen mit "eugenischer" oder "rassenhygienischer" Begründung, die meist von psychiatrischer Seite geliefert wurde, schon seit 1892 durchführten. Oftmals wurden auch in der Schweiz die Opfer als "schwachsinnig", z.T. auch als "moralisch defekt", sehr oft auch als "schizophren" diagnostiziert. Dies blieb in der Schweiz bis in die 1970er und 1980er Jahre so. Der Zwangscharakter dieser Sterilisationen in der Schweiz bestand meist darin, dass die Betroffenen vor die Alternative gestellt wurden, in die Sterilisation einzuwilligen oder lebenslänglich in einer Anstalt interniert zu werden.
Entgegen einem ursprünglichen Gesetzesentwurf von 1999, der eine Entschädidung Zwangssterilisierter in der Höhe bis zu 80'000 Franken vorsah, beschloss das 2003 neu gewählte Schweizer Parlament im Dezember 2004, nicht nur keine Entschädigungen an die noch lebenden Opfer auszuzahlen (die Mehrzahl war schon verstorben), sondern die Zwangssterilisation "Urteilsunfähiger" erneut, wie schon in früheren, teilweise aufgehobenen kantonalen Gesetzen, wieder zu legalisieren.
Link zu einem Buch über eine in der Schweiz noch 1972 zur Sterilisation gedrängte Frau.