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Am 25. Mai 2009 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung folgender Artikel:


Irland erschrickt über sich selbst

Systematischer Kindsmissbrauch unterspült alle Gewissheiten


Das päpstliche Kreuz im Phoenix Park in Dublin. (Bild: Reuters)

Die tönernen Füsse der katholischen Kirche sind selbst in Irland keine grosse Überraschung mehr. Aber das kollektive Schweigen über den systematischen Missbrauch von Kindern durch Vertreter kirchlicher Institutionen zieht auch Staat und Gesellschaft in Mitleidenschaft.

ali. Dublin, 24. Mai

«Der Katholizismus ist nicht von Natur aus schlecht, aber im Verhältnis zwischen dem Katholizismus und der irischen Republik gibt es einen bösartigen Grundton.» Mit dieser Behauptung drückte der irische Senator Eoghan Harris – ein ernanntes Mitglied der oberen Parlamentskammer – letzte Woche in gewohnt provokativer Weise einen weitverbreiteten Zweifel aus. Ist die Ausprägung der katholischen Kirche und ihrer Orden in der Republik Irland grundsätzlich anders als anderswo? Das Grauen, das der Abschlussbericht einer Expertenkommission über den Missbrauch von Kindern in katholisch geführten Anstalten und Heimen ausgelöst hat, wirft zwangsläufig grundsätzliche Fragen auf.

«Industrieller» Missbrauch

Über Jahrzehnte – im Bericht belegt für die Zeit zwischen 1936 und 1970 – verbannten die irische Justiz und Verwaltung Tausende von zum Teil sehr kleinen Kindern in Institutionen, in denen sie – wie inzwischen erwiesen ist – systematisch gequält, gedemütigt, misshandelt und ausgebeutet wurden. Obwohl gewisse Klagen bis zu den Kirchenführern und bis in die Ministerien vordrangen, wurden selbst die schlimmsten Täter nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern an einen neuen Tatort versetzt. Der Bericht sagt mit Bezug auf die «Industrial School» von Artane in Dublin: «Alle Brüder waren mitbeteiligt, weil sie nicht einschritten und die Exzesse nicht meldeten.» Diese Beschuldigung der «Christian Brothers», gegen die mit Abstand am meisten Opfer aussagten, kann auf die ganze irische Gesellschaft ausgeweitet werden. Der nordirische «Belfast Telegraph» schrieb über die sexuelle Misshandlung unzähliger Kinder: «Es war buchstäblich Missbrauch von Kindern in industriellem Ausmass.»

Der Einfluss der «Christian Brothers» auf die irische Gesellschaft jener Zeit kann nicht überschätzt werden. Neben den Anstalten für missliebige oder behinderte Kinder führten sie nämlich auch zahlreiche «normale» Mittelschulen, durch die Generationen von Jugendlichen gingen. In den Anstalten allerdings legten die Brüder keinen Wert auf die Bildung ihrer Schützlinge. Ein Heimleiter bei Limerick drückte die wohl verbreitete Geringschätzung für die Knaben in seiner Obhut aus, als er dem Ministerium schrieb: «Ein hoher Prozentsatz dieser Kinder ist illegitim, und ihre Mütter sind einfach nicht, was sie sein sollten.»

Eine Leserbriefschreiberin rüttelte letzte Woche an einem mindestens ebenso empfindlichen Tabu: Die Geburt des irischen Staates (1921) habe «ein Terror-Regime für Kinder eingeläutet, die arm oder verlassen waren oder aus Verhältnissen stammten, die nicht mit dem halbfaschistischen Ideal übereinstimmten». Wäre ihr Leben ebenso erbärmlich verlaufen, wenn ganz Irland britisch geblieben wäre?, fragt der Brief rhetorisch und schliesst mit: «Ich bezweifle es.» – Wenn die Berechtigung der Eigenstaatlichkeit und die Rolle der Kirche so fundamental in Frage gestellt werden, geraten alle Gewissheiten in Bewegung.

Die beängstigende Grundfrage allerdings, weshalb so viele Ordensbrüder, Priester und Nonnen in Irland, die ihr Leben doch hohen Idealen geweiht hatten, derart grausam waren, ist mit alledem noch nicht beantwortet.

Allmacht der Kirche

Die katholische Kirche genoss im jungen irischen Staat eine einzigartige Position, da sie nach dem unfreiwilligen Abzug der Briten die einzige noch intakte Autorität darstellte. Die Bischöfe nutzten diese Gelegenheit weidlich aus, ihr Einfluss wuchs stetig an und kulminierte in der irischen Verfassung von 1937, die in enger Zusammenarbeit mit dem Erzbischof von Dublin, dem gefürchteten John Charles McQuaid, entworfen und dem Vatikan noch vor dem irischen Parlament zur Prüfung vorgelegt wurde.

Kirche und Staat kooperierten, um jeglichen Widerspruch zu ersticken. Die Behandlung junger Frauen, deren Lebenswandel Anstoss erregte, bildete das Gegenstück zu den Kinderheimen: Die Frauen, die sogenannten Magdalens, mussten ihr Leben lang in katholischen Anstalten Wäsche waschen. Dadurch sollte der Anschein einer gottgefälligen Gesellschaft erweckt werden. Der Bericht bestätigt, dass die Beamten des Erziehungsdepartements gegenüber den geistlichen Orden eine geradezu servile Haltung einnahmen und nicht auf den Gedanken kamen, dem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Dieses Duckmäusertum ist nie ganz verschwunden. Noch 2002, als die Regierung mit den Orden und religiösen Kongregationen über den Fonds zur Entschädigung der Opfer verhandelte, begnügte sich der – zugegebenermassen besonders devote – Minister mit einem Beitrag der Kleriker von zehn Prozent einer damals noch unbekannten Summe; den Rest übernahm der Staat. Es ist nicht anzunehmen, dass der Staat gegenüber irgendeiner anderen Organisation so genügsam gewesen wäre.

Autoritäres und frustriertes Land

Das Irland, das dem Leser aus dem jüngsten Bericht entgegenstarrt, ist ein autoritäres und frustriertes Land, in dessen frugaler Ländlichkeit Armut und Repression dominieren. Wie leicht diese Mischung in Gewalt umschlug, ist aus der damaligen Literatur bekannt: Auf der Bühne bildeten Tom Murphy mit «A Whistle In The Dark» und John B. Keane mit «The Field» diese bedrückenden Impulse verbindlich ab, John McGaherns Romane kreisten um dasselbe Thema. – Wie greifbar sind die Spuren dieser bleiernen Zeit in der Gegenwart noch? Die Autorität der Kirche ist in den letzten zehn Jahren zerfallen, passenderweise aufgrund einer Reihe von Skandalen um sexuelle Verbrechen von Priestern. Der skandalöse Umgang der zuständigen Bischöfe mit den fehlbaren Priestern hat den Verdacht bestätigt, dass es der irischen Kirche immer nur um Vertuschung ging und nie um das Wohlergehen der meist jugendlichen Opfer.

Aber die Kirche bleibt ein wichtiger Faktor in der staatlichen Infrastruktur. Orden besitzen wichtige Spitäler, obwohl der Staat inzwischen für sämtliche Kosten aufkommt. Priester und Bischöfe kontrollieren nach wie vor Irlands Primarschulen, wenn auch dieser Einfluss immer virtueller wird. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen indessen, dass gewisse Bischöfe die elementaren Grundregeln zur Offenlegung von Missbrauchsfällen noch immer nicht einhalten, dass sie die Alarmierung der Polizei für eine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten halten. Der Umgang der «Christian Brothers» mit der Untersuchungskommission war von Renitenz und der gänzlichen Absenz von Schuldbewusstsein geprägt. Das von ihnen geleitete katholische Heim für blinde Kinder in Cabra in Dublin war noch bis in die neunziger Jahre Schauplatz von sexuellem Missbrauch. Der Bericht bemerkt dazu bloss lakonisch: «Schwimmbäder und Sportanlagen nützen verängstigten, eingeschüchterten und misshandelten Kindern wenig.»

Brisante Mischungen

Die andauernde Demontage der Kirche und die Einsicht in die moralische Komplizenschaft des Staates treffen die irische Gesellschaft zu einem Zeitpunkt, an dem fast alle für beständig gehaltenen Werte unterspült werden. Der jähe Fall der irischen Wirtschaft weckt den Verdacht, das Wirtschaftswunder könnte bloss eine Illusion gewesen sein. Der Einfluss von Immobilienspekulanten auf führende Politiker riecht nach Korruption. Irlands Banken sind schwer angeschlagen, die Popularität der Staatspartei Fianna Fail ist tiefer als jemals zuvor seit ihrer Gründung im Jahre 1926.

Es lässt sich nicht abschätzen, welchen Weg diese Gesellschaft, die in den letzten Jahren bunter, offener und auch ehrlicher mit sich selbst geworden ist, angesichts der verschwimmenden Grenzen wählt. Aber es erscheint, gerade im Lichte der jüngsten Enthüllungen, besonders pikant, dass der gegenwärtige Justizminister offenbar kein dringenderes Anliegen hat, als ein Gesetz gegen Blasphemie zu erlassen. Die Verfassung von 1937 stellt die Blasphemie, zusammen mit unzüchtigem und aufrührerischem Verhalten, unter Strafe, aber niemand hielt es je für nötig, eine Ausführungsgesetzgebung zu erlassen. Jetzt scheint das plötzlich dringend, was möglicherweise ein Licht auf die noch verbleibenden Spuren autoritärer Traditionen wirft. Der Untersuchungsbericht über systematischen Kindsmissbrauch im Auftrag des Staates enthielte jedenfalls eine Fülle von Beispielen für Blasphemie.



Weil der NZZ-Artikel nicht die nötigen Parallelen zu den entsprechenden Praktiken in der Schweiz zog, und weil er auch die Entschädigung von 1, 2 Milliarden Euro für die Opfer und die geplante Errichtung eines Mahnmals nicht erwähnte, schrieb ich dazu folgenden Leserbrief, der am 6. Juni 2009 in der NZZ erschien:


Wird die Schweiz von Irland lernen?

Die Praktiken in den katholisch geführten Heimen in Irland in den 1930er und 1940er Jahren, gekennzeichnet durch Prügelstrafen, Demütigung, Kinderarbeit, sexuellen Missbrauch und Ignorieren von Beschwerden, fortgesetzt bis in die 1970er Jahre, entsprechen jenen, welchen auch Zehntausende von Heim- und Verdingkindern in der Schweiz in katholischen wie auch in anderen Institutionen sowie in bäuerlichen Betrieben ausgesetzt waren.

Doch wo bleibt ein offizieller 5-bändiger Report zu den Geschehnissen in der Schweiz? Wo die Entschuldigung der Regierung? Und wo die Entschädigung für die Opfer?

Die irischen Instanzen sprechen den Opfern eine Entschädigung von mehr als einer Milliarde Euro zu (was der NZZ-Artikel vom 25. 5. 09 nicht erwähnte), der Präsident entschuldigte sich, der offizielle Bericht empfiehlt die Errichtung eines Mahnmals. In der Schweiz werden einschlägige Forschungsprojekte minimiert, eine offizielle Entschuldigung und schäbige Entschädigungen erhielten einzig jene Opfer, die aus jenischen Familien stammten und als solche einer gezielten ethnischen Verfolgung unterlagen. Die zahlreichen anderen Verding- und Heimkinder gingen bisher leer aus.

An den fehlenden Staatsfinanzen kann es nicht liegen, denn diese flossen für die gut verdienenden Herren der UBS ja raschestens in mehrfacher Milliardenhöhe.

Die Akten der Heime und Anstalten bleiben vielfach unter Verschluss oder werden vernichtet, Betroffenen wird der Aktenzugang, auf den sie ein Recht haben, vielfach erschwert oder gar verunmöglicht. Ein offizieller Bericht, eine offizielle Entschuldigung an alle Betroffenen, angemessene Entschädigung aller Opfer, Errichtung eines Mahnmals – Politikerinnen und Politiker, Behörden und Private stehen auch in der Schweiz in der Pflicht.

Thomas Huonker (Zürich)



Den Link zum offiziellen Bericht mit den genauen Angaben zu den Praktiken in den einzelnen Institutionen, Zeugenaussagen Betroffener, Darstellung des Finanzierungsschlüssels der Entschädigung in Höhe von 1,2 Milliarden Euro und dem Vorhaben der Errichtung eines Mahnmals finden Sie hier

http://www.childabusecommission.com/rpt/